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RÜDIGER - TRESSELT - TRÖTZSCHEL - SCHNEEWEISS

Rückblick auf Paul Rüdiger

Viele Familienforschungs-Kollegen kennen das: Nach Vaters Linie zu suchen, ist einfacher, weil es hauptsächlich um den selben Namen geht. Mutters Linie kommt dann immer erst an zweiter Stelle dran. Bei mir ist es nicht anders. Aber ich habe schnell gemerkt, daß interessante Geschichten dabei herauskommen. Denn mein Großvater Paul Rüdiger war nicht irgendwer...  

Dazu verreisen wir jetzt einmal mit dem Finger auf der Landkarte an die Grenze der neuen Bundesländer Sachsen-Anhalt und Thüringen, in den kleinen Ort Molau.

Paul Rüdiger, der beliebte Inhaber des Gasthofs „Zur Linde“ vor dem Zweiten Weltkrieg, war den Molauern sehr verbunden. Unter der Linde und im Saal wurde viel getanzt. In den wahrlichen "Stamm"-Baum (Foto li, Paul Rüdiger mit dem Lehrer Seitz) war ein mehrstöckiges Gestell gebaut, in das die Musiker hinaufstiegen und das auch heute noch andeutungsweise erhalten ist. Der Lindenbaum heute: kleines Foto oben.

Auf der alten Gasthof-Postkarte (Foto unten) wird berichtet, daß der Baum zum Friedensschluß des 7jährigen Krieges 1763 gepflanzt wurde. Es war damals Brauch, nach einem Krieg eine "Friedens-Linde" zu pflanzen. Einmal im Jahr stand ein Karussel vor dem Gasthof.

Die Molauer Attraktionen damals: Kirche, Bahnhof, Gasthof und - die Linde!

Paul Rüdiger, hier mit seiner 2. Frau, war gebürtig aus Apolda, und hatte Martha Margarethe Tresselt geheiratet, die aus einem Käsereibetrieb in Molau stammte (vielleicht finde ich noch ein Foto seiner 1. Frau!). Im Käserei-Haus nahm übrigens später der Stellmacher Hahn sein hölzernes Handwerk auf. Neben dem Gasthof hatte Herr Otto sein Raiffeisen-Haus. Der Ort hatte natürlich einige Handwerks-Betriebe. Der Glaser hieß so wie die Ex-Bürgermeisterin, Huth. In Molau waren damals nahezu ein Dutzend Großbauern: Beckers, Böhme, Koch, Müller, Pfeiffer, Scharf, Schönherr, Schütze, Szyrba, Werner und Wöllner. Herr Böhme war Lehrer und Szyrba, der Bürgermeister, war im Gasthof „Zur Linde“ gern gesehener Stammgast wie die meisten Molauer. So trafen sich die vier Lehrer der Orte Molau, Aue, Sieglitz und Graitschen regelmäßig zum Schachspiel im Gasthof. Auf dem obersten Foto des Lindenbaums ist neben Paul Rüdiger auch Lehrer Seitz zu sehen.

Marianne hatte ihren beiden Söhnen all die Jahre von vielen schönen Erlebnissen aus der Kindheit in Molau erzählt. Zum Beispiel von dem "Problem", am anderen Ende von Molau eine Kanne mit Sahne zu holen, ohne sie bei der Verfolgung von Truthähnen und Heidschnucken zu verschütten. An Oma Busch erinnerte sie sich noch, die Gänsefedern rupfte, aber auch jeden Tag ihr Essen ins Haus bekam.

Paul Rüdiger mit einem Teil seiner Familie

Bauer Böhme und sein Vater kamen fast täglich in die "Linde". Marianne holte oft bei Böhme's die Milch, aber auch bei anderen Bauern. Böhme zog viel später in den äußersten Westen, in die Aachener Soers, wo sich ganz in der Nähe das Reiterstadion befindet.

Der Innenhof der "Linde"

Und Molau in der Weihnachtszeit? Da wurde der sorgfältig eingeschlagene Stollenteig mit einem Handkarren zu Keppler’s in die Auer Mühle gefahren, um die Stollen für den Gasthof auszubacken. In Aue wurde nicht nur gemahlen, sondern dort befand sich auch ein Backhaus.  

Zu dem einen oder anderen Transport wurden auch schon mal die beiden großen Hunde Leo und Freia vor einen Wagen gespannt (Foto unten). Aber vor allem vor Leo mußte man sich in Acht nehmen. Wenn er im Hof seine Knochen zu fressen bekam, sollte man, auch wenn die Hunde angeleint waren, einen großen Bogen machen. Von Rüdigers Kindern Kurt, Erich, Lisbeth, Lotte sowie Marianne und Gretel aus zweiter Ehe bekam Gretel einmal Leos Zähne zu spüren, der sie in den Bauch biß. Die Narben hatte sie behalten! Freia war da ganz anders: sie „lud“ Klein-Marianne dazu ein, in ihre Hundehütte zu kriechen.

Auf dem Hundewagen Klein-Gretel, neben ihr der Geselle Willy.

Durch dieses Foto, das in einem Buch über Hunde und Tradition nachgedruckt wurde, habe ich auch wieder Kontakte zu Gretels Angehörige gefunden.

Stammgäste der „Linde“ kamen auch aus Graitschen und Camburg. Wenn man sich das Gasthaus von vorn betrachtet, muß man sich vorstellen, daß hinter den beiden Fenstern oben rechts die Fremdenzimmer waren. Hinter den beiden mittleren Fenstern war Rüdigers Schlafzimmer und die beiden linken Fenster gehörten zur guten Stube. Herr Bach war der Camburger Getränkelieferant.


Paul Rüdiger war ja auch Metzgermeister und stellte Wurst her, die kistenweise verschickt wurde, auch nach Frankreich. Da bestanden gute Kontakte nach St. Etienne, weil zur Zeit des 1. Weltkriegs in der "Linde" gefangene französische Soldaten ihren Schlafsaal hatten. Vermutlich hatten sie sich so an Rüdigers Wurstspezialitäten gewöhnt, daß sie auf den Genuß auch nach dem Krieg nicht verzichten wollten. Die Franzosen schickten damals beliebte Holzbilder und auch Spitzendeckchen zurück nach Molau. Aber St. Etienne war nicht nur berühmt für die Erfindung der Nähmaschine, sondern auch eine alte Waffenstadt. Daher geriet sie in den Focus der deutschen Angreifer im zweiten Weltkrieg. St. Etienne wurde leider völlig zerstört. Man kann sich gut vorstellen, daß aufgrund dieser Ereignisse das zarte Pflänzchen Freundschaft gelitten hat. 

Aber noch einmal kurz zurück in die Zeit des 1. Weltkriegs: Dem Paul Rüdiger lag das Schießen wohl nicht: Als er selbst einberufen wurde, zog er es lieber vor, seine eigenen Kameraden in Frankreich mit seiner Kochkunst zu „verwöhnen“. Foto: Die Soldaten im Wald errichteten einen gut getarnten „Gasthof“. Unter dem Schild „Thüringer Waldrestaurant“, steht links „Koch“ Paul. (Früher gehörte Molau ja noch zu Thüringen!)

Eine Episode aus der Zeit vor 100 Jahren erschien kürzlich im Wethautaler Heimatspiegel.

Hier sehen wir den Paul noch mal ganz links oben, als Pfingsten 1925 vor seiner "Linde" das Maifest gefeiert wurde.

Und was war noch bei Rüdigers? Vor dem Gasthof „Zur Linde“ befand sich eine sogenannte Pferdewaage, die die kleine Marianne bedienen mußte. Auch Kohlen wurden hier gewogen. Wenn nicht gerade getanzt wurde, kam der Eichmeister, um die Waage im Saal des Gasthofs zu eichen. Wenn Paul Rüdiger wüßte, daß heute hier wieder getanzt und gefeiert werden kann... Aber: Ging es denn damals schon einmal lustig zu?

Nein. Ganz so friedlich war die Situation in Molau nicht immer. Vor allem, wenn die Zigeuner mit ihren prunkvoll ausstaffierten Wagen in einer Mulde am Waldrand campierten. Einmal verlangten sie von Paul Rüdiger Fleisch, aber als es an das Bezahlen ging, zückte der Zigeuner ein Messer und verschwand mit der Beute!

Die Idylle in Molau wurde damals dann jäh unterbrochen, als Rüdigers Frau Martha im hochschwangeren Zustand einen tragischen Unfall hatte, bei dem sie verstarb. Sie war auf dem Weg in die Gaststube die Treppe heruntergefallen. Für den Fortbestand von Gasthof und Familie heiratete Paul ein zweites Mal. Martha Margarethe war schon zu Lebzeiten mit Martha befreundet gewesen (Foto rechts: Martha Margarethe Rüdiger).

Das endgültige Aus für die Rüdigers im Gasthof „Zur Linde“ kam dann zu Beginn des „Dritten Reiches“. Marianne war noch Kind, als die Familie ausziehen mußte und nach Crölpa-Löbschütz umsiedelte. Sie hat nie erfahren, warum das alles so kam - da haben wir mal recherchiert! Paul Rüdiger war zu den in seinem Haus einquartierten französischen Kriegsgefangenen des 1. Weltkriegs freundlich gesonnen. Dies war den Nationalsozialisten nicht genehm und mein Grossvater musste den Besitz räumen. Der bisherige Hausschlächter und Parteigänger Fischer und seine Frau übernahmen den Gasthof. Wenige Jahre danach erschoss er sich, aber hier sind die Gründe unbekannt.

Paul und seine Frau haben in Crölpa-Löbschütz noch einmal einen Neuanfang gestartet. Sie richteten in der  Dorfstraße (Foto) ein kleines Ladengeschäft ein, aber ihre Kräfte ließen nach und sie starben bald.

Ein schöner Zufall ist, daß ein paar Meter weiter - 70 Jahre später - wieder eine ganz hervorragende Wurst produziert wird. Na, Großvater da oben, was sagst Du dazu?

Lehrer Nelkenbrecher fuhr - unvergessen - mit seinem Fahrrad durch Crölpa. Als Schülerin Marianne ihm eine an der Dorfstraße gefundene römische Münze zeigte, meinte er nach langem Betrachten: "Die müßte aus Nero's Zeit sein". Nelkenbrechers Nachfahren reagierten auf Anfragen nicht, aber das macht nichts!

Links im Bild die Spielkameraden von Marianne aus der Kinderzeit, Waldi und Rolf Werner. Letzterer wurde in letzter Zeit Ortsbürgermeister, wenn ich richtig informiert bin.

Paul Rüdigers Sohn Erich leitete später eine Zeitlang das Gasthaus zur Linde (Erich hinten, Mitte. Foto: SR).

So sah der Gasthof Mitte der Neunziger Jahre aus - man spürte: hier tut sich was! Der Heimatverein war auf den Plan gerufen.

Der Verfall des Traditionshauses war gestoppt. Wenn man das Molauer Schmuckstück heute sieht, kann man ahnen, wieviel Arbeit hinter der Renovierung steckt. Rüdigers Tochter Marianne las 2008 erfreut im Naumburger Tageblatt von der Einweihung der „Linde“ als Vereinshaus des Heimatvereins. Kurz darauf verstarb sie leider - als Letzte dieser Generation. Foto: MS

So gut es ging, haben die Nachkommen Paul Rüdigers von hüben nach drüben Verbindung gehalten. Es bestanden bis 2008 noch vereinzelte briefliche und telefonische Kontakte zwischen einzelnen verbliebenen Verwandten, aber auch Schulfreundinnen. Manche waren in der Heimat geblieben, einige zog es nach Aachen, nach Gottstreu/ Weser, nach Schramberg/Schwarzwald oder nach Solingen - die Mauer existierte damals noch nicht.  Paul Rüdiger hatte als gebürtiger Apoldaer Verwandtschaft in der Strickmaschinenfabrik der Familie Moths, die später "strick-chic" firmierte - und bis heute erfolgreich ist. Ihr Aushängeschild ist die sympathische Heike Drechsler. Im Foto links sehen wir Erich Rüdigers Familie: mit Hilde und Siegfried. Foto: SR

Auch Erich ließ sich im Juli 1954 vor der Tanz-Linde ablichten!

Paul Rüdigers  Kinder Marianne, Erich und Charlotte

Alles in allem wurden Rüdigers Nachkommen bis in die jüngere Vergangenheit hinein von Schicksalsschlägen nicht verschont. Aber dagegen kann man nichts machen!

Die Welt kann doch manchmal klein sein: Als ich 1995 einmal auf dem Molauer Friedhof war, konnte mir eine zufällig anwesende Berlinerin und ehemalige Zeitzeugin aus Molau die Stelle der ehemaligen Grabstätte meines Großvaters zeigen! (Molau-Foto: MS)

Die Erinnerung an "ihn" bleibt und so sagte mir später im Ort eine Molauerin: „Paul war der Beste, den wir je hatten“.                                                                  Ulrich J. Gülpen


  SCHLOSS SCHÖNEFELD, LEIPZIG   

Martha Margarethe Rüdiger, geb. Tresselt, hatte eine Tante,  Johanne Sophie  Trötzschel, die einem wohlhabenden Militärhaushalt entstammte. "Die Trötzscheln", wie man sie in der Familie nannte, wohnte als ledig gebliebene "höhere Tochter" auf Schloß Schönefeld in Leipzig. Baronesse Clara Hedwig von Eberstein hatte als Vermächtnis hier das Mariannenstift gegründet. Stiftsdame Trötzschel (1829-1898) wurde später selbst zur Stifterin: Sie vererbte ihr ganzes Vermögen der Kirchgemeinde von Schönefeld. Die Trötzschelstraße unweit des Schlosses erinnert seit 1910 an meine Urgroßtante. Paul Rüdigers Schwiegermutter, Wilhelmina Tresselt (1860-1941), ist eine geborene Schneeweiß aus Wurzen - was mag sich wohl hinter diesem traditionsreichen Namen verbergen? Eine Familie Schneeweiß war vor rund 250 Jahren in Lübschütz ansässig. Aus Freiberg erhielt ich nun weitere Angaben. 

(Faksimile: histor. Postkarte von Arthur Tresselt, Archiv)

 
     
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